– ENTSTEHUNG –

Hintergrund

Jann Kessler wurde 1995 in Frauenfeld (CH) geboren und wuchs in Felben auf. Bereits mit 10 Jahren hat er damit begonnen, mit Freunden Kurzfilme zu drehen. Durch den Wechsel ans Gymnasium Frauenfeld lernte er Simeon Wälti und Jovin Langenegger kennen und gemeinsam gründeten sie 2013 das Künstlerkollektiv Revolta.

Seither sind viele Projekte entstanden. Projekte, die es ermöglichten, nicht mehr zu Hause zu sein, sich nicht mehr mit der schwierigen Situation im Elternhaus beschäftigen zu müssen: Seit Jann fünf Jahre ist, lebt seine Mutter mit der Diagnose MS. Dies hat das Leben der Familie nachhaltig verändert. Jann Kessler schildert:

Während die MS meiner Mutter unterdessen so weit fortgeschritten war, dass sie nicht mehr sprechen konnte, wollte ich endlich mehr über diese Krankheit erfahren und versuchen zu verstehen, wie sie einen Menschen verändert. Durch das Filmprojekt schuf ich mir die Möglichkeit, MS-Betroffene zu treffen, um mehr darüber die MS zu erfahren.«

 

 

Entwicklung

Ziel war es also, das Filmemachen zu nutzen, um die Erfahrungen mit der MS zu verarbeiten.

Jann entschloss sich, andere Menschen mit MS treffen zu wollen und deren Geschichte zu verfilmen. Es solle kein allgemeiner Film über die Krankheit werden, sondern ausgewählte Schicksale  genauer beleuchten und auf den Menschen eingehen, seine Sorgen und Ängste, aber auch seine Freuden und die unbeschwerten Momente nebst der Krankheit zeigen. Insgesamt meldeten sich über 40 Personen, die gerne beim Film mitgemacht hätten. Kessler entschied sich dazu, fünfzehn dieser Menschen zu treffen:

»Für mich als Angehöriger einer MS-Betroffenen war es sehr spannend, die ersten Gespräche zu führen. Ich merkte, dass ich sehr schnell Vertrauen gewinnen konnte - doch wusste mein Gegenüber, dass ich durch meine Betroffenheit vieles sehr gut verstehen konnte. Schlussendlich entschied ich mich dazu, sechs Menschen in meinem Film zu begleiten. Aber auch hier nahm ich mir Zeit, ließ die Kamera während den ersten Besuchen zu Hause. Stattdessen half ich den Protagonisten im Haushalt, lernte die Familie kennen, redete und erzählte von meinen Erfahrungen. Das ermöglichte ein tiefes Vertrauen, das Entstehen einer Freundschaft. Dieses Vertrauen, so glaube ich, spürt man durch den gesamten Film.«

Für Jann Kessler war lange ungewiss, ob die eigene Geschichte seiner Mutter einen Platz im Film haben sollte. »Mein gesamtes Umfeld ermunterte mich dazu, aber ich stand dem sehr skeptisch gegenüber. Auch die Frage, ob es richtig ist, dass ich meine Mutter filme, obwohl sie sich selbst dazu nicht mehr äußern kann, viel mir nicht leicht. Schlussendlich haben wir in der Familie die Entscheidung gefällt - ja, Mama soll Teil des Filmes werden. Aber auch mein eigenes Suchen - meine Reise - denn das ist schlussendlich der rote Faden des Filmes und die Geschichte, die die anderen zusammenhält.

»Durch das Filmen fand ich die ideale Möglichkeit, die Probleme und Erfahrungen mit der MS meiner Mutter in Projekten zu ersticken. Das ging lange gut, aber im Vorfeld der Matura-Arbeit merkte ich, dass mich diese Situation immer stärker beschäftigte, mir den Schlaf raubte. Ich musste etwas verändern, um mich weiterentwickeln zu können. So entschloss ich mich  zur Flucht nach vorne - ich wollte als Matura-Arbeit einen Film über Menschen mit MS drehen.

Realisierung

Irgendwann nahm ich dann die Kamera mit und habe begonnen, sowohl im Alltag, als auch bei Gesprächen zu filmen. Aber aus den Gesprächen wurden keine Interviews, trotz Kamera standen wir im Dialog, denn die Kamera war häufig fix auf dem Stativ, so blieb ich als Person präsent. Obwohl ich nach wie vor an das Gelingen dieses Projekts glaubte, war es immer noch meine Matura-Arbeit. Ich merkte zunehmend, dass mir diese Schicksale sehr nahe gingen. So entschloss ich mich zu einer Alternative - einem Projektjournal. Dort notierte ich alle Erfahrungen und Eindrücke, die ich so auch verarbeiten konnte. Glücklicherweise musste ich diese Alternative nie beanspruchen, denn die Drehaufnahmen entwickelten sich sehr gut. Insgesamt besuchte ich die porträtieren Personen mehr als 50 Mal. Auch zu meiner Mutter fand ich immer intensiveren Kontakt. Ich las ihr aus Hermann Hesses 'Siddhartha' vor, eine Geschichte, die schlussendlich Teil des Filmes geworden ist.

Nach intensiven Drehwochen musste irgendwann (knapp drei Wochen vor Abgabetermin) der Entschluss gefällt werden, mit diesen Aufnahmen zufrieden zu sein und diese ins Filmschnittprogramm zu importieren. Vor mir lagen drei sehr intensive Wochen, in welchen ich das Studio nicht mehr verlassen konnte.

Montage

Ich staunte nicht schlecht, als ich realisierte, dass insgesamt 1'275 Aufnahmen zu insgesamt 104 Stunden Material zusammengekommen sind. Wie soll man nun mit einer solchen Fülle an Material umgehen? Um einen Überblick zu erhalten, notierte ich jede Szene auf Notizzettel, die ich im Fimstudio an der Master-Wand platzieren konnte. So entwickelte sich langsam eine dramaturgische Handlung, ein roter Faden, ein Spannungsbogen. Durch die Unterstützung der Erfahrenen Dokumentarfilmern Dieter Fahrer und Martin Witz konnte dieses Grundgerüst noch ver-bessert und perfektioniert werden.«

Visionen

Nach der Präsentation der Matura-Arbeit im November 2013 war der Tenor des Publikums eindeutig: Dieser Film soll an die Öffentlichkeit. Jann Kessler suchte sich daraufhin Unterstützung, konnte den Film inhaltlich und dramaturgisch nochmals stark verbessern, dank einigen Geldgebern konnte der Film auch technisch noch professionalisiert werden. Untertitel wurden erstellt, so dass der Film im Januar 2015 an den Solothurner Filmtagen gezeigt werden konnte.

Durch seine ehrliche, authentische Art vermag Multiple Schicksale zu berühren, regt zum Nachdenken an. Hinterfragt den Umgang mit Menschen mit MS, mit Menschen, die eine Einschränkung haben, die nicht dem Leistungsideal der heutigen Gesellschaft entsprechen.

Das abstrakte Krankheitsbild der MS wird durch sieben Schicksale fass- und erlebbar gemacht. Nachvollziehbar. Mit einem grossen Ziel: Verständnis zu schaffen.